Casale del Giglio im Süden von Rom - "Ciao Bello(ne)"

Der Weißwein Anthium aus der Sorte Bellone ist der neue Drei-Gläser-Star 

Foto oben: Der Bellone aus dem Latium überzeugt im nationalen Vergleich mit Toskana, Friaul und Sardinien.

Langlebiger Weißwein? In Italien bisher eher ein Widerspruch in sich. Auf Casale del Giglio aber strebt man genau das an: Weißwein mit hohem Reifepotenzial. Die seit der Antike bekannte Rebsorte Bellone scheint sich dafür ausgezeichnet zu eignen. Das beweisen die beiden reinsortigen Premium-Weißen von Casale, „Radix“ und „Anthium“. Goldgelb schimmern die prallen Beeren an den üppig strotzenden, rundlich geformten Trauben und verheißen reichen Genuss. Hübsch sieht das aus, und offenbar hat sie schon in der Antike gefallen, die „große Schöne“, wie die Bellone wörtlich übersetzt heißt, denn schon zu Beginn unserer Zeitrechnung fand sie bei Plinius dem Älteren Erwähnung. 
Trotzdem sind die verbreitesten Reben im weißweindominierten Latium nach wie vor Trebbiano und Malvasia, Bellone führt eher ein Mauerblümchendasein. In zwei der der interessantesten und hochwertigsten Lazio-Weine aber ist sie der alleinige Star. Beide kommen sie von Casale del Giglio. 

Lust am Experiment

Antonio Santarelli, Inhaber von Casale del Giglio, und Paolo Tiefenthaler, der aus dem Trentin stammende Önologe, haben richtig Glück miteinander. Der eine, dass er einen so leidenschaftlich und großartig arbeitenden Önologen an sein Haus binden konnte. Der wiederum, dass er hier alle Freiheit hat, seine Ideen und seine Lust am Experimentieren zu verwirklichen; dass er für einen großzügigen Patron arbeitet, der seine ganz und gar nicht am Markt orientierten Vorstellungen teilt. Seit mehr als dreißig Jahren besteht die Partnerschaft dieses ungewöhnlichen Gespanns inzwischen. 
Aufs Experimentieren war Casale del Giglio, 1967 von Antonios Großvater Dino gegründet, von Anfang an angewiesen. Denn zwar kann das Latium insgesamt auf eine lange Weinbaugeschichte zurückblicken, doch dieses Fleckchen in der Provinz Latina war jungfräuliche Erde, auf der zuvor noch keine Rebe gewachsen war. 

Casale del Giglio, rund fünfzig Kilometer südlich von Rom gelegen, küstennah und hundertsechzig Hektar groß, war also von Anfang an ein Pionier-Weingut. Als erstes galt es herauszufinden, welche Rebsorten sich für das Terrain eignen. Beim Ausprobieren ist man großzügig vorgegangen. Hat nicht nur die üblichen Verdächtigen gesetzt, sondern knapp fünf Dutzend verschiedene Varietäten angepflanzt, neben den im Latium verbreitetsten weißen Sorten Trebbiano und Malvasia auch Bellone, Bombino bianco, Grecchetto, Fiano, Petit Manseng und Viognier, unter den Roten Tempranillo, Syrah und Lagrein. Begleitet wurde das Projekt von der Uni Florenz. Es ist nicht zuletzt Santarelli und seinem Mut zum Experiment zu verdanken, dass heute Rebsorten wie Viognier oder Petit Manseng im Latium offiziell zugelassen sind – zwei spätreifende weiße Reben, die dem Önologen Tiefenthaler zufolge das Terroir besonders gut zum Ausdruck bringen. 

Der Reblaus entkommen

Eine Pioniertat ist auch, wass Paolo Tiefenthaler heute macht: Er setzt nicht auf unkomplizierte, leicht zu trinkende Weißweine, die möglichst schnell zu konsumieren sind. Er pfeift auf Fruchtigkeit und blumige Aromen. Langlebigkeit ist ihm das oberste Qualitätsmerkmal. Äußerst ungewöhnlich – und das nicht nur nach italienischen Maßstäben – ist der „Radix“, der jüngste weißen Neuzugang. Der heißt so, nämlich „Wurzel“, weil die Bellone-Reben in diesem Fall wurzelecht sind. Schon allein deshalb ist er eine Rarität, denn üblich sind – zum Schutz vor der Reblaus – auf amerikanische Unterlagen gepfropfte europäische Edelreben. Diese hier wachsen direkt an der Küste, etwas entfernt vom eigentlichen Weingut, auf einem kargen sandigen Stückchen Land, wo es selbst der Reblaus zu unwirtlich war, weshalb hier ein paar uralte Reben der europaweiten Rebvernichtung durch die Phylloxera entgangen sind. 

Ausdrucksstarker Saft

Der behutsam gepresste Saft der von Hand gelesenen Trauben bleibt nur ganz kurz auf der Maische, beginnt dann seine Gärung spontan in großen Holzfässern, in denen er zwei Jahre ungestört vor sich hingären darf. Anschließend zieht er um in eine Amphore, bleibt dort ein gutes halbes Jahr und kommt dann in Flaschen. Darin ruht und reift er weitere zwei Jahre, bevor er sich der Öffentlichkeit präsentieren darf. So ist 2016 tatsächlich der aktuelle Jahrgang und damit in der Welt der Weißweine eine echte Rarität. „Was ich suche, ist nicht die Frucht, sondern der Ausdruck des Terroirs – und der Zeit“, sagt der Önologe, „zwanzig, dreißig oder auch vierzig Jahre sollte der Wein halten können.“ Wer duftig-frische Primärfrucht sucht, wird hier nicht fündig, und doch entfalten sich mit den Jahren zunehmend Noten von reifen exotischen Früchten, vornehmlich Mango und Papaya, unterlegt von mineralischen, regelrecht salzigen Noten und Kräuterduft. 

Weißwein mit zartem Tannin

Der Radix ist ein Unikum, gerade mal dreitausend Flaschen gibt es davon. Die Chancen, etwas davon zu abzubekommen, sind gering. Aber da ist ja noch der Anthium, mit dem Tiefenthaler und Santarelli das Gleiche anstreben. Auch er ein reinsortiger Bellone, aus eben jenen nur ein paar Meter vom Meer entfernt gewachsenen Trauben von wurzelechten Reben. Der Anthium, benannt nach dem lateinischen Namen des Küstenstädtchens Anzio, an dessen Rand der Bellone wächst, vergärt ebenfalls nach kurzer Maischestandzeit spontan, was ihm einen angenehm zarten Hauch Tannin verleiht. Holz und Amphore sieht er nicht von innen, der Ausbau erfolgt ausschließlich in Edelstahl. Und doch kann er sich, davon ist Tiefenthaler überzeugt, nach wenigen Jahren der Reife absolut mit dem Radix messen. 

Probiert man jetzt den 2021er, so schmeckt er frisch und angenehm und lässt dabei gute Qualität erkennen. Wirklich aufregend ist das aber nicht, sein Potenzial weiß der Wein noch gut zu verbergen. Doch bereits ein Jahr macht einen entscheidenden Unterschied. Der 2020er wirkt kraftvoll und tiefgründig, und ja, mit seinem Kräuterduft und der Mineralik ähnelt er auf einmal wirklich dem Radix, auch wenn er nicht so monumental wirkt. Der Anthium aus 2018 zeigt sich als Wein, der gerade mal beginnt, seine Möglichkeiten anzudeuten, indem er erste exotische Fruchtnoten offenbart, dabei aber immer straff und fest wirkt, nie ausladend. Nach ein paar Reifejahren, davon ist Paolo Tiefenthaler überzeugt, wird der Anthium mit dem Radix gleichziehen. 

Eins macht der Anthium auf jeden Fall klar, nämlich, dass es bei hochwertigen Weißweinen unbedingt lohnt, auch mal zu warten. Gewiss, der im Vorjahr gelesene und gerade ausgelieferte Wein kann mit fruchtiger Frische bezaubern, kann charmant und leichtfüßig über die Zunge tanzen. Genießen Sie das ruhig. Aber heben Sie – immer vorausgesetzt, es handelt sich um gehobene Qualität – doch auch vom Weißwein mal ein paar Flaschen auf, um sie im folgenden Jahr und vielleicht auch ein weiteres Jahr später nochmal zu probieren. Sie dürften sehr angenehme Überraschungen erleben. Rozsika spricht im kurzen Insta-Video über ihre Begeisterung, zum Video geht es hier entlang.

Rozsika Farkas besuchte das Weingut und probierte mit Paolo Tiefenthaler im März 2022 die Weine, zur Weingutswebseite.